Europäisches Semester:
Länderbericht Deutschland 2020

Datum
02.03.2020

In den Länderberichten wird jährlich bewertet, inwieweit die Mitgliedstaaten die länderspezifischen Empfehlungen der EU-Kommission vom Vorjahr umsetzen und Fortschritte erzielen.

Das Europäische Semester wurde 2010 eingeführt, damit die EU-Länder ihre Wirtschaftspolitik ganzjährig koordinieren und wirtschaftlichen Herausforderungen, die die gesamte EU betreffen, gemeinsam begegnen können. Jedes Jahr analysiert die EU-Kommission eingehend die geplanten haushaltspolitischen, makroökonomischen und strukturellen Reformen der Mitgliedstaaten. Sie gibt den EU-Ländern daraufhin länderspezifische Empfehlungen für die kommenden 12 bis 18 Monate. Zudem überwacht sie auch die Fortschritte der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Ziele der Europa Strategie 2020 . Die Regierungen der EU-Länder entscheiden selbst, welche Maßnahmen sie zur Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen treffen.

Auszüge aus dem Länderbericht Deutschland 2020 :

Im zehnten Wachstumsjahr in Folge ist das deutsche Wachstum 2019 deutlich unter seinem Potenzial geblieben. Gleichzeitig wurden bei den Reformen nur moderate Fortschritte erzielt. Positiv zu vermerken ist der weiterhin ausgesprochen robuste Arbeitsmarkt. Eine große Herausforderung stellen allerdings nach wie vor Investitionen in Bildung, in nachhaltigen Verkehr, in bezahlbaren Wohnraum und in die Energie- und die digitale Infrastruktur dar. Auch reichen die gesetzlichen und sonstigen Anreize (einschließlich steuerlicher Anreize) offenbar nicht aus, um ein inklusives und nachhaltiges Wachstum zu fördern.
Während die Einkommensunterschiede in Deutschland dem Durchschnitt entsprechen, sind die Vermögen sehr ungleich verteilt. Würde die Chancengleichheit durch verstärkte Maßnahmen bei der allgemeinen und der beruflichen Bildung erhöht und würden Fragen der inter- und intragenerationellen Gerechtigkeit auch mithilfe der Sozialsysteme angegangen, könnte dies zu einem inklusiveren Wachstum beitragen.
Um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen und zugleich das Wachstumspotenzial zu steigern, müssen insbesondere in den netzgebundenen Wirtschaftszweigen, bei der allgemeinen und der beruflichen Bildung, bei der beruflichen Weiterbildung und bei Forschung und Innovation kontinuierlich langfristige Investitionen getätigt werden.

Bei der Erreichung der gesetzten nationalen Europa-2020-Ziele schneidet Deutschland sehr gut ab bei

  • der Beschäftigungsquote,
  • der Verringerung der Armut und
  • den Investitionen in Forschung und Entwicklung (FuE).

Auch hat Deutschland sein nationales Ziel in Bezug auf den vorzeitigen Schulabgang und den Anteil erneuerbarer Energiequellen fast erreicht. Allerdings ist es trotz des jüngst verabschiedeten Klimapakets unwahrscheinlich, dass Deutschland seine nationalen Energieeffizienz- und Klimaziele für 2020 auch bis 2020 erreichen wird.

Scoreboard der Europäischen Säule sozialer Rechte

Bei den Indikatoren des Scoreboards der Europäischen Säule sozialer Rechte schneidet Deutschland weiterhin sehr gut ab (vgl. Länderbericht, S. 48ff.). Deutschland hat eine der höchsten Beschäftigungsquoten in der EU, eine niedrige Arbeitslosigkeit (einschließlich der Jugend- und der Langzeitarbeitslosigkeit) und ein gut zugängliches Gesundheitswesen. Auch die Frauenbeschäftigungsquote ist eine der höchsten in der EU, wenngleich Frauen in viel stärkerem Maße teilzeitbeschäftigt sind als Männer. Bei den Bildungsergebnissen bestehen regional große Unterschiede.

  • Während Deutschland eine der höchsten Beschäftigungsquoten für Frauen in der EU aufweist und das geschlechtsspezifische Beschäftigungsgefälle unter dem EU-Durchschnitt liegt, ist die Teilzeitbeschäftigungsquote für Frauen eine der höchsten in der EU. Dies geht mit einem großen geschlechtsspezifischen Lohngefälle einher‚ das die zwischen Männern und Frauen bestehenden Unterschiede in der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und in der sektoralen Zusammensetzung der Beschäftigung widerspiegelt. Deutschland hat mit den höchsten Anteil von Frauen, die in Niedriglohnberufen arbeiten.
  • Die Bildungsergebnisse sind regional sehr unterschiedlich. In Bremen brechen 14,6 % aller 18- bis 24-Jährigen ihre Ausbildung frühzeitig ab; bundesweit sind dies durchschnittlich 10,3 % und in Niederbayern nur 5,2 %. Auch die NEET-Quote (Anteil junger Menschen, die keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und keine Berufsausbildung absolvieren) variiert zwischen den Regionen, wobei der Unterschied zwischen der am besten und der am schlechtesten abschneidenden Region beinahe 6 Prozentpunkte beträgt. In Berlin gehören 9,1 % der jungen Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren zur NEET-Gruppe, gegenüber einem landesweiten Durchschnitt von 5,9 % und nur 3,5 % in der leistungsstärksten Region Unterfranken in Bayern. In gleicher Weise bestehen bei der Quote der Hochschulabschlüsse unter den 30- bis 34-Jährigen erhebliche Unterschiede zwischen den Regionen (30 Prozentpunkte).
  • Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Dank einer starken Arbeitsmarktentwicklung lag die Langzeitarbeitslosigkeit 2018 bei 3,4 % und damit bei der Hälfte des EU-Durchschnitts von 6,8 %. Weitere Verbesserungen sind – zum Teil aufgrund staatlicher Maßnahmen wie dem Teilhabechancengesetz – zu erwarten. Nach diesem Gesetz zahlt der Staat bei Einstellung eines Langzeitarbeitslosen im ersten Jahr 75 % und im zweiten Jahr 50 % seines Arbeitsentgelts. Darüber hinaus verbessern das Qualifizierungschancengesetz und das Gesetz zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes den Zugang von Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen zu arbeitsmarktrelevanten Bildungsangeboten.
  • Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften bremst das Wachstum. Trotz der Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit herrscht nach wie vor beträchtlicher Arbeitskräftemangel. Der Anteil von Industrieunternehmen, die Arbeitskräftemangel als einschränkenden Produktionsfaktor melden, ist nach dem hohen Wert von 27 % im zweiten Quartal 2018 zwar gesunken, ist aber mit 18 % im dritten Quartal 2019 nach wie vor recht hoch. Gleichzeitig liegt die Quote unbesetzter Stellen (Anteil unbesetzter Stellen an allen Arbeitsplätzen) nahe bei ihrem historischen Höchststand von 3,2 % (Q3 2019); in der EU liegt der Durchschnittswert bei 2,3 % und im Euro-Währungsgebiet bei 2,2 %. Die Bevölkerungsalterung und der technologische Wandel machen die Sicherung qualifizierter Arbeitskräfte auch zu einer strukturellen Herausforderung.
  • Weiterbildung und Umschulung der Arbeitskräfte können dazu beitragen, den Mangel an Arbeitskräften zu verringern. Während Deutschland eine der höchsten Beschäftigungsquoten in der EU hat, ist die Beschäftigungsquote von Geringqualifizierten mit 60,7 % relativ niedrig und liegt 19,2 Prozentpunkte unter der Gesamtbeschäftigungsquote (gegenüber einem EU-28-Durchschnitt von 17,0 Prozentpunkten). Im Jahr 2018 waren 14,2 % der Deutschen zwischen 20 und 64 Jahren (d. h. sieben Millionen Menschen) gering qualifiziert. Atypische Beschäftigung und niedrige Entlohnung sind in dieser Gruppe besonders weit verbreitet. Die Teilnahmequote an der Erwachsenenbildung liegt mit 8,2 % deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 11,1 %, was auf Raum für Verbesserungen schließen lässt. Deutschland hat 2019 einige vielversprechende Reformen zur Verbesserung von Weiterbildung und Umschulung eingeleitet, doch kann hier noch mehr getan werden. Zu den vielversprechenden Initiativen gehört z. B. das "Qualifizierungschancengesetz", durch das der Zugang zu Weiterbildung und die finanzielle Förderung solcher Maßnahmen für Arbeitnehmer*innen, deren berufliche Tätigkeiten durch neue Technologien gefährdet sind, verbessert werden. Hier wäre auch das 2019 aktualisierte Berufsbildungsgesetz zu nennen.
  • Eine bessere Nutzung des Arbeitsmarktpotenzials von Frauen könnte dazu beitragen, Qualifikationsdefizite zu verringern, den Auswirkungen der Bevölkerungsalterung entgegenzuwirken und das Potenzialwachstum zu steigern. Während Deutschland eine der höchsten Beschäftigungsquoten von Frauen in der EU hat (75,8 % im Jahr 2018 gegenüber einem EU-28-Durchschnitt von 67,4 %), entfällt fast die Hälfte davon auf Teilzeitbeschäftigung (46,7 % gegenüber einem EU-28-Durchschnitt von 30,8 %). Gerechnet in Vollzeitäquivalenten beträgt die Beschäftigungsquote von Frauen nur 59,4 % und geht mit einem höheren unbereinigten geschlechtsspezifischen Lohngefälle einher (21 % gegenüber einem EU-Durchschnitt von 16 % im Jahr 2017; die bereinigte geschlechtsspezifische Lohnlücke beträgt 6 %). Das geschlechtsspezifische Beschäftigungsgefälle in Vollzeitäquivalenten ist das vierthöchste in der EU (20,8 Prozentpunkte gegenüber einem EU-Durchschnitt von 18 Prozentpunkten) und erhält im sozialpolitischen Scoreboard die Bewertung "durchschnittlich".
  • Das Potenzial von Menschen mit Migrationshintergrund wird nach wie vor nur unzureichend genutzt. Die Diskrepanz bei den Erwerbstätigenquoten zwischen im Inland geborenen und außerhalb der EU geborenen Personen ist trotz eines leichten Rückgangs um 0,8 Prozentpunkte nach wie vor eine der höchsten in der EU (16,3 Prozentpunkte gegenüber einem EU-Durchschnitt von 9,4 Prozentpunkten). Wenn diese Lücke geschlossen würde, könnten fast ein Million mehr Menschen erwerbstätig sein. Besonders problematisch ist die Situation bei Frauen, die außerhalb der EU geboren sind. Bei dieser Gruppe ist das Beschäftigungsgefälle doppelt so groß wie bei außerhalb der EU geborenen Männern.
  • Der Arbeitsmarkt zeigt sich stark, die soziale Lage verbessert sich nur moderat. Im Jahr 2018 waren 18,7 % der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht (EU-Durchschnitt: 22,5 %). Die Quote von Armut bedrohter Erwerbstätiger lag bei 9,1 % und damit nur geringfügig unter dem EU-Durchschnitt (9,5 %).

Alles in allem hat Deutschland bei der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen begrenzte Fortschritte erzielt. Welche Fortschritte bei der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen in den einzelnen Unterbereichen erzielt und welche Maßnahmen ergriffen wurden, sind im Länderbericht ausführlich dargestellt.