Gute Arbeit, gute Pflege - Das Kompetenzmodell der Diakonie Düsseldorf

Datum
15.07.2021

Der Bedarf an Personal für die Altenhilfe ist hoch und wird in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die Pflegekräfte durch immer komplexere Versorgungsbedarfe. Unternehmen der Altenhilfe müssen deshalb Strategien entwickeln, um einerseits qualifiziertes Personal zu gewinnen und langfristig an das Unternehmen zu binden und um andererseits die Mitarbeiter*innen so zu schulen, dass es den hohen Anforderungen gerecht werden kann. Wie das gelingen kann, zeigt das "rückenwind+"-Projekt "Kompetenzen fördern - Pflege leben" ("Komfor") der Diakonie Düsseldorf.

Über ein Jahr nach Ende der Projektlaufzeit wird am Beispiel der Diakonie Düsseldorf auch deutlich, welche Impuls- und Veränderungskraft eine ESF-Förderung in der Personal- und Organisationsentwicklung von Unternehmen in der Sozialwirtschaft haben kann.
3.100 Mitarbeitende und 1.600 Ehrenamtliche engagieren sich in der Diakonie Düsseldorf für Menschen jeden Alters an mehr als 210 Standorte in Düsseldorf. Problematisch: In den acht Einrichtungen der stationären Pflege stiegen, analog des bundesweiten Trends, bis 2017 nicht nur das Durchschnittsalter der Mitarbeitenden, sondern auch die Krankheitsquote sowie die Anzahl der unbesetzten Stellen.
Einen Handlungsansatz, um diesem Umstand entgegenzuwirken, erkannte die Diakonie im Aufbau eines systematischen Kompetenzmanagements. Dieses kann dabei helfen, Personalentwicklung im Unternehmen passgenau zu gestalten, Kompetenzen von Mitarbeitenden gezielt zu nutzen und zu entwickeln, brachliegendes Potenzial zu nutzen, Karrierechancen zu verbessern und so die Attraktivität des Berufsfeldes zu verbessern.

Im Interview spricht die ESF-Regiestelle für das ESF-Programm "rückenwind+" mit Anna Waldhausen, Stabstelle "Strategische Projekte" bei der Diakonie Düsseldorf, rund ein Jahr nach Projektende von "Komfor" zu ihren Erfahrungen und den Ergebnissen der "rückenwind+"-Förderung im Unternehmen

Frau Waldhausen, während "Kompetenzmanagement" als strategischer Entwicklungsprozess in anderen Branchen weit verbreitet und etabliert ist, gewinnt es in der Pflege erst seit einiger Zeit an Bedeutung. Warum ist das so?

Frau Waldhausen: Die Pflege arbeitet nach Standards, um eine hohe Qualität der Leistungen sicher zu stellen und zu dokumentieren. In den Standards und allen rechtlichen Hintergründen sind die Pflegefachkraft und die ungelernten oder einjährigen Pflegehelfer*innen klar definiert. Es ist festgeschrieben, was diese Berufsgruppen können (sollen) und tun dürfen. Eine stärkere Kompetenzorientierung bedeutet aber in letzter Konsequenz, dass nicht jede*r in dieses vorgefertigte Raster passt und Schwerpunkte dort setzt, wo er oder sie besonders kompetent ist. Das ist ein neuer Gedanke für die Pflege - und letztlich für alle Berufsgruppen, die sehr stark von außen definiert und kontrolliert werden.

Die Diakonie Düsseldorf hat rund 3.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ganz unterschiedlichen Berufsfeldern und innerhalb derer auch vielfältige Arbeitsbereiche mit natürlich ganz unterschiedlichen Kenntnisse, Erfahrungen und Qualifikationen. Um welche "Kompetenzen" geht es denn eigentlich bei diesem Modell?

Frau Waldhausen: Je nach Berufsgruppe, also Pflegedienst, Hauswirtschaftsdienst, Sozialdienst, Führungskräfte, beschreibt das Modell 14-18 Kompetenzbereiche, die für die jeweiligen Arbeitsbereiche von besonderer Bedeutung sind. Diese Kompetenzbereiche sind den folgenden vier Dimensionen zugeordnet: "Zusammenarbeit fördern", "Organisation gestalten", "Persönlichkeit entwickeln" sowie "Pflege leben".

Während die Kompetenzbereiche, die den ersten drei Dimensionen zugeordnet sind, für alle Mitarbeitendengruppen des Geschäftsbereichs identisch sind, finden sich in der Dimension "Pflege leben" berufs-/gruppenspezifische Kompetenzbereiche wieder, die vor allem fachlich-methodische Kompetenzen umfassen und die sich daher zum Teil für die unterschiedlichen Mitarbeitendengruppen unterscheiden. Die jeweilige berufs-/gruppenspezifische Kompetenz wird darüber hinaus anhand der inhaltlichen Ausgestaltung der einzelnen Kompetenzbereiche in Form von Verhaltensbeispielen sichtbar.

Das klingt recht komplex…

Frau Waldhausen: … ist aber auf den zweiten Blick sehr praxisorientiert. Ausgehend vom Modell haben wir Kompetenzbögen entwickelt, die in Vorbereitung und zur Durchführung der Mitarbeiter*innenjahresgespräche genutzt werden. In diesen Kompetenzbögen wird jeder Kompetenzbereich mithilfe von übergeordneten Indikatoren und konkreten Verhaltensbeispielen für die jeweilige Mitarbeitendengruppe beschrieben. Die Verhaltensbeispiele sind dann jeweils für Fach- und Hilfskräfte bzw. für die unterschiedlichen Führungsebenen ausformuliert und dienen als Orientierung für die Weiterförderung der einzelnen Kolleg*innen.

Eine Graphik der Diakonie Düsseldorf
Graphik Kompetenzmodell "Komfor" © Diakonie Düsseldorf e.V.

Warum schien ein "Kompetenzmodell" das richtige Instrument für die Problematik "Fachkräftesicherung" im Bereich Altenhilfe in der Diakonie Düsseldorf zu sein?

Frau Waldhausen: Die Entwicklung eines Kompetenzmodelles und die Einbettung in die Prozesse der Personalarbeit ist nicht das eine "richtige" Modell. Es ist ein Baustein, um Mitarbeitende besser zu kennen und um auch nach vielen Jahren offen zu bleiben, für das, was der oder die Einzelne mitbringt. Es hilft uns auch dabei, bei rund 1.000 Mitarbeitenden in diesem Bereich einen einheitlichen Gesprächsrahmen zu finden, um uns über individuelle Kompetenzen auszutauschen. Dabei geht es nicht um einen objektiven Vergleich von Leistung, sondern um das Finden von Talenten und Entwicklungspotenzialen. Wenn wir die kennen, können wir die Verteilung der Aufgaben kompetenzorientierter gestalten und zugleich gezielte Kompetenzentwicklung betreiben.

Es geht Ihnen aber nicht nur um die bereits bei Ihnen beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter…

Frau Waldhausen: Richtig. Auch bei der Rekrutierung von neuen Mitarbeitenden ist das Modell ein Pluspunkt. In der Werbung um kompetente Mitarbeitende können wir uns als Arbeitgeber positionieren, der auf das Individuum schaut und die persönliche Weiterentwicklung der Menschen ernst nimmt.Letztlich hängt es in allen Bereichen davon ab, wie das Modell verwendet wird und in die Führungskultur und die sonstigen Arbeitsbedingungen passt. Das Modell würde uns nicht helfen, wenn wir hier nicht gut aufgestellt wären.

Welcher Voraussetzungen bedurfte es darüber hinaus für einen erfolgreichen Umsetzungsprozess im Unternehmen?

Frau Waldhausen: Kompetenzorientierung ist nicht ein Modell, das entwickelt wird und dann fertig ist. Sie ist eine viel größere Idee. Es ist ein ständiger Prozess, diese Idee in die Personalarbeit zu implementieren. Der Nutzen des Modells muss dabei konkret erfahrbar sein, sonst gerät es in Vergessenheit.

Wie genau sind Sie vorgegangen?

Frau Waldhausen: Gestartet sind wir mit einer systematischen Literaturrecherche. Die in der internationalen Fachliteratur identifizierten Kompetenzfelder haben wir in vielen Workshops mit über 90 Mitarbeitenden aller Berufs- und Hierarchiegruppen auf den Prüfstand gestellt, ergänzt, präzisiert oder gestrichen. Parallel dazu haben wir ein Konzept entwickelt, wie wir uns den Einsatz vorstellen, z. B. welche Leitgedanken dahinterstehen. Im Anschluss haben wir alle ca. 50 Mitarbeitenden mit Leitungsaufgaben in der Verwendung geschult und das Modell in zwei Jahren im Rahmen von Mitarbeiter*innenjahresgesprächen eingesetzt. Über eine externe wissenschaftliche Evaluation haben wir die Situation vor und nach dem Einsatz analysieren lassen. So hatten wir am Ende ein umfassendes Modell mit Konzept und eine Vorstellung der Wirkung "on the job".

Wirklich geholfen hat dabei, dass wir eine breite Gruppe von Mitarbeitenden in die Entwicklung eingebunden haben. Von dem*der Abteilungsleiter*in bis hin zum ungelernten Mitarbeitenden in der Küche waren alle dabei. Das war methodisch anspruchsvoll und sehr intensiv in der Auseinandersetzung. Außerdem hatten wir eine Projektleitung an Bord, die mit langjähriger Erfahrung sowohl in der praktischen Pflege also auch in der Pflegewissenschaft verschiedene Perspektiven und Inhalte zusammenbringen konnte.

Mehrere Personen im Stuhlkreis
Projektteilnehmende "Komfor" & Projektleitung Tina Quasdorf (ganz rechts) © Diakonie Düsseldorf e.V.

Das klingt nach einem idealtypischen Verlauf. Was war denn die überraschendste Erfahrung in den drei Jahren Projektumsetzung für Sie und Ihre Kolleginnen?

Frau Waldhausen: Überraschend waren die "Nebenprodukte" des Projekts. Als wir das Modell bis ins Detail beschrieben hatten, wurde plötzlich nochmal deutlich, was die Berufsgruppen in der Pflege eigentlich jeden Tag tun und leisten. Das hatte einen großen Effekt für das Selbstbewusstsein und das berufliche Selbstverständnis.

Inwiefern?

Frau Waldhausen: Die Pflege leidet darunter, dass es schwierig ist, ihre Profession und ihre Professionalität überhaupt in Worte zu fassen. Nicht zuletzt deshalb wird so häufig angenommen, dass Pflege "jeder kann". Das Kompetenzmodell setzt dem etwas entgegen.

Überraschend war z. B. auch, dass bei der Beschreibung der Kompetenzen durch die Kolleg*innen das thematische Fachwissen, etwa über die Dekubitusprophylaxe oder die palliative Versorgung, keineswegs im Vordergrund stand, sondern als schlichte Voraussetzung angesehen wurde, den Beruf überhaupt auszuüben. Komplex wurde es bei Kompetenzen wie der Gestaltung des Versorgungsprozesses, Beraten und Anleiten.

Das "rückenwind+"-Projekt "Komfor" ist bereits seit März 2020 abgeschlossen. Was ist seither passiert? Wie werden die gewonnen Ansätze fortgeführt?

Frau Waldhausen: Ehrlich gesagt, lag der Fokus im letzten Jahr angesichts der Corona-Pandemie bei sehr existenziellen Themen. Dieses Jahr hat uns wieder gezeigt, wie wenig Vertrauen es in die Kompetenzen des Berufsstandes gibt und wie stark die Anforderungen von außen beschrieben wurden und werden. Doch diese Erkenntnis treibt uns weiter an, das Thema "Kompetenzarbeit" weiter zu verfolgen. Wir haben gerade die Verwendung des Modells in den Prozess der Identifikation und Förderung potenzieller Führungskräfte implementiert. Damit wird der gesamte Prozess transparent und nachvollziehbar.

Werden auch andere Arbeitsfelder außerhalb der Altenhilfe zukünftig mit eingebunden?

Frau Waldhausen: Wir haben schon jetzt das Modell für alle Berufsgruppen rund um die Pflege implementiert, d.h. auch für den sozialen Dienst, alle Leitungspositionen, die Hauswirtschaft und die Küche. Um das Modell auf andere Arbeitsfelder anzupassen, und hier die relevanten Kompetenzbereiche zu identifizieren und auszuarbeiten, ist jedoch ein eigener Entwicklungsprozess erforderlich. Ich bin mir allerdings sicher, dass unser Ergebnis auch andere Arbeitsfelder "anstecken" wird.

Was können Sie anderen Unternehmen in der Sozialwirtschaft raten, die ähnliche Prozesse andenken?

Frau Waldhausen: Das Modell, das Konzept und der Weg dahin müssen zum Unternehmen passen. Es braucht den gemeinsamen Entwicklungsprozess. Bei uns war dieser Prozess sehr partizipativ und basisdemokratisch. Auch wenn das viel Zeit und Ressourcen braucht, gibt es viele weitere positive Nebeneffekte: von der Entwicklung des professionellen Selbstverständnisses bis hin zum Teambuilding und nicht zuletzt auch eine breite Unterstützung für die Anwendung. Insgesamt lohnt es sich, sich auf den Weg zu machen!

Vielen Dank für das Gespräch!

Das ESF-Programm "rückenwind - Für die Beschäftigten und Unternehmen in der Sozialwirtschaft" (kurz: "rückenwind+")

Das ESF-Programm "rückenwind - Für die Beschäftigten und Unternehmen in der Sozialwirtschaft" (kurz: "rückenwind+") ist ein im Jahr 2015 gestartetes Förderprogramm zur Fachkräftesicherung in sozialen Berufsfeldern. Rund 150 Projekte werden aktuell gefördert. Bis 2020 wurden knapp 25.700 Beschäftigte und 1.620 Unternehmen beraten.

Ansatzpunkt ist die Personal- und Organisationsentwicklung in Unternehmen und Verbänden der gemeinnützigen Sozialwirtschaft. Ziel der Förderung ist die Verbesserung der Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit der Beschäftigten in der Sozialwirtschaft in Verbindung mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Organisationsstrukturen in den Einrichtungen, Diensten und Verbänden. Das Förderprogramm wurde gemeinsam vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. entwickelt. Gefördert wird es aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und aus Bundesmitteln.

Weitere Informationen zum Programm rückenwind+ finden Sie auf dem ESF-Webportal, auf der Programmwebsite sowie auf Twitter.

Kontakt: regiestelle@bag-wohlfahrt.de

Auszug aus dem ESF-Newsletter